„Wir werden erst aufhören, die Natur zu zerstören, wenn wir begreifen, dass wir ein Teil von ihr sind“
In diesem Sommer hat sich das bald 11-köpfige interdisziplinäre Umweltteam des Bistums gegründet. Dr. Dietmar Müßig ist als Referent für Bolivienpartnerschaft und Ökotheologie im Team. Im Interview mit Frauke Stockhorst spricht der Theologe über falsch verstandenen Herrschaftsanspruch und darüber, was wir von indigenen Völkern in Bolivien lernen können.
Frauke Stockhorst: Herr Dr. Müßig, Sie sind Referent für Bolivienpartnerschaft und Ökotheologie. Da habe ich als erstes gleich die Frage: Was ist denn überhaupt Ökotheologie?
Dietmar Müßig: Öko leitet sich vom griechischen Wort oikos ab, das heißt so viel wie Haus oder Haushalt. So ist Ökotheologie dann auch ein Zweig der Theologie, der sich mit der Frage beschäftigt, wie „das gemeinsame Haus“ der Schöpfung bewahrt werden kann. Denn spätestens seit der Umweltenzyklika Laudato si` von Papst Franziskus im Jahr 2015 weiß auch die katholische Kirche – die Schöpfung zu schützen ist nicht eine Möglichkeit, sondern eine Verpflichtung.
Stockhorst: Wir befinden uns mitten im sechsten Massensterben der Arten in der Geschichte des Lebens auf der Erde. Der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen der Vereinten Nationen (IPCC) mahnt an, dass nur ein unverzügliches Handeln noch dazu führen kann, die Klimakatastrophe und ihre Folgen einzudämmen. Auf der 27. Klimakonferenz hat der UN-Generalsekretär António Guterres gewarnt: „Wir sind auf einem Highway in die Klimahölle.“ Was muss und kann Kirche also tun?
Müßig: Papst Franziskus hat dieses Jahr in seiner Botschaft zum Weltgebetstag für die Bewahrung der Schöpfung geantwortet, dass wir uns entschließen müssen, unsere Herzen, unseren Lebensstil und die Arten von Politik, die unsere Gesellschaften bestimmen, zu verändern.
Die Ökotheologie beschäftigt sich vor allem mit der Veränderung des Herzes. Gemeint ist damit die ökologische Umkehr, die bereits Johannes Paul II. benannt hat, dass wir unseren Blick auf unsere Mitwelt verändern: Die Schöpfung ist ein heiliges Geschenk Gottes und nicht ein Objekt, das wir einfach ausbeuten können.
Stockhorst: Wird aber nicht gerade in der Schöpfungsgeschichte davon gesprochen, dass der Mensch sich die Welt untertan machen sollte? Und ist das nicht somit ein Teil unseres Problems der vielfältigen sozio-ökologischen Krisen?
Müßig: In Genesis 1,28 heißt es „Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch.“ Und dieser sogenannte Herrschaftsbefehl hat im Verlauf der europäischen Geistesgeschichte in der Tat eine enorme Wirkungsgeschichte entfaltet; in diesem Sinne haben auch theologische Überzeugungen und die daraus erwachsenen Haltungen unsere heutigen ökologischen Krisen mit verursacht.
Allerdings ist dieses Zitat aus der Bibel oft völlig falsch interpretiert worden. Denn das Wort „herrschen“ ergibt sich hier eher aus der alt-orientalischen Herrschaftsideologie: Der Herrscher im Orient war aber auch immer jemand, der sich in besonderer Weise um die Armen und die gesamte Ordnung zu kümmern hatte. Das passt eher zu unserem Bild des Hirten, der sich um seine Schutzbefohlenen sorgt.
Leider wurde diese Bibelstelle dann vielfach als philosophische Grundaussage über das Wesen des Menschen missverstanden, der damit seinen Herrschaftsanspruch unterstrich. Das zieht sich dann durch von der christlichen Denktradition bis zur Philosophie der Aufklärung, in der der vernunftgesteuerte Mensch als Maß aller Dinge gilt und die Kontrollinstanz des alttestamentarischen Gottes komplett wegfällt. Und es findet sich weiter in der Neuzeit, mit ihren vielfältigen Mechanismen von Ausbeutung und Unterdrückung: So wurde der vernunftgesteuerte Mensch meist als Mann gesehen, dem sich die Frau, die Natur oder die Naturvölker unterwerfen mussten.
Stockhorst: Und in der Ökotheologie geht es nun auch um ein neues Verständnis des Menschen von sich selbst und von seinem Verhältnis zu Gott und zur Schöpfung?
Müßig: In der Tat braucht es einen neuen Fokus. Statt uns als Krone der Schöpfung zu verstehen - ein Bild, das übrigens gar nicht aus der Bibel stammt -, müssen wir lernen, uns als Teil der Lebensgemeinschaft auf diesem Planeten zu sehen. Tiere und Pflanzen sind, wie es nicht zuletzt der heilige Franz von Assisi vorgelebt hat, unsere Geschwister.
Stockhorst: Inwieweit hilft hier auch die Partnerschaft mit Bolivien?
Müßig: Die „Sorge um das gemeinsame Haus“ ist einer der Schwerpunkte der neuen Partnerschaftsvereinbarung mit den bolivianischen Partnerinnen und Partnern.
Hilfreich sind hier gerade die Weltvorstellungen und Spiritualitäten der indigenen Völker in Bolivien. So käme in den Anden niemand auf die Idee, sich als Krone der Schöpfung zu verstehen; dort geht es vielmehr um ein Leben in Harmonie mit der Schöpfung und mit den anderen Mitgeschöpfen, die Subjekte sind wie wir Menschen auch.
Auch die amazonische Tradition kennt viele religiös begründete Regelungen, die einen nachhaltigen Lebensstil garantieren sollen. Zum Beispiel der Herr des Waldes, den es im Amazonasgebietes in vielen Ländern Sprachen gibt. Er verweist auf Jahrhunderte alte Erfahrungen und ein beeindruckendes Wissen um Gleichgewichte im Ökosystem. So fragt der Jäger um Erlaubnis, bevor er zur Jagd geht. Und er darf auch nur so viel erbeuten, wie er zum Lebensunterhalt seiner Familie oder der Gemeinschaft benötigt – und nicht mehr.
Stockhorst: Es geht in der Partnerschaft mit Bolivien aber auch darum, aufzuzeigen, welche Folgen unser Handeln und Wirtschaften für die Menschen im globalen Süden hat?
Müßig: Ja. Ein großes Thema ist hier der enorme Bedarf an Rohstoffen wie Gold oder Lithium, aber auch an Agrarprodukten wie Kaffee oder Soja. So wird das Gold mit Hilfe von flüssigem Quecksilber aus dem Flussschlamm im nördlichen Amazonasgebiet herausgewaschen – mit massiven Folgen für Umwelt und die Gesundheit der Menschen. Oder das Beispiel Soja: Die Massentierhaltung in Deutschland braucht enorme Mengen an Futtermitteln. Die Sojabohnen wachsen auch in der Gegend von Santa Cruz in Bolivien. Hier wurde durch die agroindustrielle Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten Unmengen an Regenwald abgeholzt und stattdessen wird jetzt in Monokulturen und bei hohem Pestizid-Einsatz gentechnisch verändertes Soja angebaut.
Stockhorst: Welche Hoffnung kann die Ökotheologie in der sozio-ökologischen Krise geben?
Müßig: Die christliche Philosophie hat mit dem falsch verstandenen Herrschaftsanspruch und der daraus entstandenen Sichtweise des Menschen, er könne außerhalb des Ökosystems handeln und walten, einen großen Teil des heutigen Problems mit verursacht. Wir können jetzt als Kirche nun andersherum daran arbeiten, dieses Selbstverständnis zu verändern und uns als Teil des großen Ganzen begreifen, für das wir verantwortlich sind und von dem wir aber auch abhängig sind. Vermutlich werden wir erst aufhören, die Natur und damit uns selbst zu zerstören, wenn wir begreifen, dass wir ein Teil von ihr sind.
Stockhorst: Und wie kann diese veränderte Sichtweise konkret gelingen?
Müßig: Dies ist ein wichtiges Thema für die pastorale Arbeit. So überlegen wir unter anderem, ob wir liturgische Vorlagen, Predigtanregungen und weitere Handreichungen anbieten können. Auch Kurse zur Aus- und Fortbildung von Ehrenamtlichen sind angedacht. Denn es wird in Zukunft in den Gemeinden immer mehr Wortgottesfeiern geben, die von Laien gestaltet werden. Und da erlebe ich viel Offenheit, ein anderes Narrativ von Gott und seiner Schöpfung, von der wir Menschen nur ein Teil sind, zu vermitteln.
Im Gespräch
Dr. Dietmar Müßig ist Referent für Bolivienpartnerschaft und Ökotheologie
Der Theologe engagiert sich als Referent für Ökotheologie für eine ökologische Umkehr im Sinne der Umweltenzyklika Laudato si´ - Über die Sorge für das gemeinsame Haus von Papst Franziskus. Müßig wird künftig unter anderem für zwei bis drei Monate im Jahr als Dozent für Ökotheologie an der Katholischen Universität in Cochabamba arbeiten und vor Ort ökologische Projekte initiieren und begleiten.
Müßig war 11 Jahre Leiter der Diözesanstelle Weltkirche im Bistum Hildesheim und koordiniert seit 1997 die Bolivienpartnerschaft. Hier ist er Ansprechpartner in allen Fragen, besonders in Bezug auf ökologische Projekte, aber auch für den Austausch und die Begegnung von Studierenden und Dozierenden im wissenschaftlichen Bereich.
Frauke Stockhorst ist Referentin für Nachhaltigkeitskommunikation
Die Diplom-Biologin und Redakteurin ist im Umweltteam des Bistum Hildesheim verantwortlich für die Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit der Nachhaltigkeitsthemen.