Mehr als ein Wunder
Ein Beitrag zum Experiment "Meine Heilige Schrift"
Der zweite Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit bedeuteten für zahllose Menschen den Tod. Überleben grenzte oftmals an ein Wunder. Karl-Heinz Rosanowski musste als kleines Kind viel durchmachen: Flucht, Vertreibung, Not – dem Tod schaute er mehr als einmal ins Auge. Dass er diese dramatische Zeit überlebt hat, ist für ihn selbst höchst wundersam: Ein tröstender und stärkender Psalm war stets an seiner Seite.
Der Herr ist mein Hirte.
Psalm 23,1
Dieser Titel des 23. Psalms steht auf dem Grabstein unseres Familiengrabes. Dort ruhen nicht nur meine Eltern, sondern auch mein Großvater (mütterlicherseits) und meine Großmutter (väterlicherseits). Dass die Partner der Großeltern fehlen, ist der großen Not nach dem 1. Weltkrieg bzw. der Endzeit des 2. Weltkrieges geschuldet.
Die Großmutter des Grabes war eine recht fromme Frau, für die das Lesen in der Bibel tägliche Erbauung war. Als ihre drei Söhne „ins Feld“ mußten, hat sie ihnen den ganzen 23. Psalm mitgegeben und ans Herz gelegt, obwohl diese ihn auswendig kannten. Der Text tröstete ihre Kinder bei Gefahr und in schweren Stunden. Zwei der Söhne haben den Krieg auf wundersame Weise überlebt. Der jüngste wurde 23 Mal (!) verwundet. Mein Vater stand als Pionier sechs Jahre in vorderster Front, war über ein Jahr ohne ein Lebenszeichen (für meine Mutter „endlos“) eingekesselt. Er wurde lediglich beim Endkampf um Ostpreußen verschüttet und nach Dänemark ausgeschifft. Das Wunder: Mein Vater entkam – äußerlich unverletzt – dem Schlamassel, ohne in russische Kriegsgefangenschaft geraten zu sein.
Für meine Mutter (29), meinen Bruder (5) und mich (fast 8) auf der zu späten Flucht aus unserer schönen Heimat reichte nicht ein Wunder allein, es musste reihenweise in Anspruch genommen werden.
Bei den gefährlichen Stationen dieser sechswöchigen Odyssee von Ostpreußen zur Lüneburger Heide beschränke ich mich auf Stichworte: Die allerletzte Fahrt nur hinter einem Windschutz auf einem offenen Güterzug bei -18° C. Die Flucht aus Heilsberg in letzter Minute: Zu Fuß über einen verschneiten Acker, als über uns schon die Granaten der Roten Armee pfiffen ... Der Fliegerangriff in der benachbarten Stadt Mehlsack, als das Nachbarhaus getroffen wurde und wir alle voller Angst gemeinsam eng an einen Schornstein gepresst die Feuersbrunst im Nachbarhaus ansehen mussten. Einen Tieffliegerangriff unter einem LKW im Straßengraben unverletzt überlebt zu haben (der Nachbar nicht!). In einer frostigen Nacht unter freiem Himmel in einem Birkenwäldchen dank unserer lebensklugen Mutter nicht wie viele andere für ewig eingeschlafen zu sein. Nass, aber heil über das brüchige Eis des frischen Haffs gelangt zu sein. Ein Schiff nach Danzig-Langfuhr zu erreichen, wo wir von einem alten, gütigen Ehepaar sehr herzlich in deren Wohnung – sogar mit Bibliothek! – aufgenommen wurden. Dass meine Mutter zufällig auf einem Spaziergang im Hafen Danzigs noch Platz auf einem Kutter erbetteln konnte. Ohne unsere letzte Habe, die beiden Aktentaschen, die noch in unserem Quartier lagen, konnte sie aber nicht los. Den Kutter, wo wir erstmals in bewusster Todesangst mutterseelenallein ausharrten, erreichte sie völlig außer Atem, als er gerade ablegen wollte. Auf diesem kleinen Kutter kamen wir, wegen der bekannten Torpedierung der „Gustloff“, in einen Geleitzug fahrend, trotz eines Lecks kurz vor dem rettenden Hafen nach Swinemünde, das gerade (obwohl vernebelt!) in Schutt und Asche gelegt wurde ... Danach waren wir in Sicherheit und hatten „nur“ noch die Zugfahrt – auf Stroh gebettet und in einen Güterwagen eingezwängt – bis in die Lüneburger Heide zu überstehen. Dort wartete sehnsüchtig die Großmutter, die schon rechtzeitig zu ihrer ältesten Tochter gereist war. Ihre intensiven Gebete wurden erhört. Wir wurden bewahrt und schließlich gerettet.
Jede dieser Situationen hätte unsere letzte sein können. Aber „Der Herr war unser Hirte!“ und viele Schutzengel hatten Schwerstarbeit geleistet.
Einsender
Name: Karl-Heinz Rosanowski
Alter: 77 Jahre
Ort: Hildesheim