In auswegloser Lage die Würde bewahren – und vielleicht über sich hinauswachsen
Ein Beitrag zum Experiment "Meine Heilige Schrift"
Wenn eine Situation so verfahren ist, dass es keinen Ausweg aus der Sackgasse mehr gibt, wenn auch der letzte Strohhalm in der Hand zerbricht – dann können „Helden“ der anderen Art geboren werden. „Helden“, die Mitleid und Barmherzigkeit leben. „Helden“, die würdevoll dem Abgrund entgegensehen und -gehen. „Helden“, die über sich selbst hinauswachsen. Dies findet Mathilde Bockholt in ihrer Lieblingsbibelstelle – und bleibt tief beeindruckt zurück.
Jetzt aber höre auch du auf die Stimme deiner Magd! Ich will dir ein Stück Brot zum Essen geben. Dann wirst du wieder zu Kräften kommen und kannst deines Weges gehen.
1. Buch Samuel 28,22
In dem Kapitel 1 Samuel 28 („Saul bei der Totenbeschwörerin von En-Dor“) wird erzählt, wie sich der erste König Israels, Saul, in seiner Verzweiflung Rat bei einer Totenbeschwörerin holt, obwohl der König selbst solche Ratgeberinnen aus Israel vertrieben hatte.
Saul hatte sehr viele Schwierigkeiten: Als erster König hatte er es ohnehin schwer. Er ist persönlich labil. Mit David wird ein Konkurrent immer stärker. Und die Philister sind eine ständige Bedrohung. Außerdem macht er selbst Fehler und hat auch einfach Pech. Er spürt, wie ihm alles entgleitet. Niemand steht ihm zur Seite. Die Propheten, die Losorakel, die Träume, sein Bitten um Jahwes Rat, all das bleibt aus bzw- erfolglos.
In seiner Verzweiflung wendet er sich an eine Totenbeschwörerin, die er, verkleidet, heimlich aufsucht, um von ihr Rat zu bekommen. Die Frau lässt für ihn seinen alten Mentor Samuel aus der Unterwelt aufsteigen. Dieser aber macht alles noch schlimmer: Er sagt Saul für den nächsten Tag den Tod seiner Söhne und Sauls eigenen Tod voraus, dazu die Niederlage gegen die Philister. Saul wird ohnmächtig bei dieser niederschmetternden Botschaft, zumal er lange nichts gegessen hat.
Hier aber kommt die Frau ins Spiel. Sie hat Mitleid mit dem König und will ihn für seinen letzten Weg stärken. Sie sagt ihm, sie selber habe ihr Leben aufs Spiel gesetzt, als der unbekannte Besucher ihre Dienste erbat. Jetzt müsse er auf sie hören. Sie bereitet für ihn und seine Begleiter das Beste zu, was es gibt: ein Mastkalb und dazu frisches Brot. Und der König hört auf sie. Er weiß, dass er diese Stärkung für seinen letzten schweren Weg in den Tod brauchen wird.
Mich beeindrucken beide zutiefst: die Frau, die die Verzweiflung des Königs kennt, voll Mitleid ist und es schafft, den König für seinen letzten Tag, für seinen letzten Kampf mit den Philistern mit einem richtigen Essen zu stärken. Und Saul, der sich nicht drückt, sondern sich der Bitte der Frau fügt, bevor er sich dem letzten Kampf stellt.
Wie schafft die Frau das, so mit dem König umzugehen? Wie schafft sie es, ihn zu überzeugen, dass er essen muss? Von ihm lesen wir nur: „Ich will nicht essen.“ Schließlich gibt er den Bitten der Frau, denen sich seine Begleiter anschließen, doch nach.
Was bedeutet mir der Text? Die Barmherzigkeit von Frauen ist eine besondere Eigenschaft. Nicht zufällig kommt das hebräische Wort für Barmherzigkeit von dem Wort rächäm = Gebärmutter. Auch in ausweglosen Situationen können Menschen ihre Würde bewahren und ihre Größe zeigen. Das gilt für Männer und Frauen. Beide können über sich hinauswachsen, in einem Maße, das sie sich vorher vielleicht gar nicht zugetraut hätten.
Außerdem ist dieser Text eines der vielen Beispiele dafür, dass biblische Texte oft hervorragende Literatur sind.
Einsender
Name: Mathilde Bockholt
Alter: -
Ort: Bonn