„Wir müssen aus dem permanenten Kampfmodus heraus“
Podiumsdiskussion zu Geschlechterfragen im Dommuseum Hildesheim: Fachleute werben für größere Offenheit und das Aufgeben vermeintlicher Sicherheiten
Vier Expertinnen und Experten diskutierten am Mittwochabend im Nachgang zur Ausstellung „Frauenwelten“, zu sehen im Hildesheimer Dommuseum bis Februar 2022, über Geschlechterfragen. Sie waren sich einig: Eine größere Sachlichkeit in der öffentlichen Diskussion ist erforderlich, um verhärtete Fronten aufzuweichen.
Bischof Dr. Heiner Wilmer SCJ, der Germanist und Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Toni Tholen (Universität Hildesheim), die Soziologin Prof. Dr. Mechthild Bereswill (Universität Kassel) und Dr. Andrea Qualbrink (Bistum Essen) waren die Diskutanten im Hildesheimer Godehardsaal, die Moderation lag bei Dr. Ruth Bendels, Leiterin der Akademie des Bistums Hildesheim. In vielen Dingen bestand große Einigkeit: Sozialisation und Kultur prägen die Geschlechtlichkeit, die binäre Geschlechterstruktur befindet sich in Auflösung und erreichte Fortschritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung erscheinen nicht immer gesichert.
„Es ist für unsere Gesellschaft unglaublich wichtig, das Patriarchat zu überwinden, wir werden sonst keine Zukunft haben“, betonte Tholen, zu dessen Schwerpunkten die Männlichkeitsforschung zählt. Allein am Beispiel des Zugriffs auf die Natur zeige sich, wie zerstörerisch patriarchalische Strukturen seien. Zurzeit könne man den Rückfall in traditionelle Muster beobachten, sowohl im Ukraine-Krieg als auch bei der Großmacht China.
Die innerkirchliche Auseinandersetzung zu Fragen des Geschlechts sei „von einer Vehemenz geprägt, die mich erschreckt“, sagte Andrea Qualbrink aus der Organisationsentwicklung im Bistum Essen. Sie habe den Eindruck, dass manche Personen in der Geschlechter-Debatte in einer komplexen äußeren Welt nach Sicherheiten suchten, um etwas zu schützen, was so klar erscheine. Dabei eigne sich das Thema nicht als Kampfplatz: „Es gibt keine Gender-Ideologie“, betonte Qualbrink, die zum Thema „Frauen in kirchlichen Leitungspositionen“ promoviert hat und das Programm „Kirche im Mentoring - Frauen steigen auf“ mitkonzipiert.
„Wir müssen aus dem permanenten Kampfmodus heraus“, unterstützte Tholen seine Nachbarin. Auch Bischof Wilmer machen „die vermeintlichen Hypersicherheiten“ sehr skeptisch. „Manche Begriffe werden überhöht und führen zu starken Abwehrreaktionen“, berichtete er von seinen Erfahrungen beim Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland, einem Erneuerungsprozess, bei dem auch Qualbrink involviert ist. Ihm persönlich sei es wichtig, weiter nach vorn zu kommen und nicht durch Verhärtung in Stagnation zu verharren: „Besser einen halben Schritt, als gar keinen.“
Kampf sei zu vermeiden, aber der Konflikt sei notwendig, damit Entwicklung stattfinden könne, hob Mechthild Bereswill, Professorin für Soziologie, hervor. „Demokratische Gesellschaft geht nur mit Konfliktfähigkeit, Ambivalenz muss ausgehalten werden“, sagte die Expertin für Geschlechterforschung. Auch sie hofft auf deutliche Fortschritte in der aktuellen Debatte und antwortete auf die Frage nach ihrer persönlichen Utopie: „Dass wir uns später einmal darüber wundern, dass wir heute zwei Stunden über das Thema diskutiert haben.“