„Wir brauchen die Vereinigten Staaten von Europa“
Der Schriftsteller Navid Kermani sprach im Hildesheimer Dom mit dem ehemaligen Außenminister Sigmar Gabriel
Bei der traditionellen Lesung am Aschermittwoch der Künstler las Navid Kermani aus seinem neuen Buch „In die andere Richtung jetzt: Eine Reise durch Ostafrika“ und sprach darüber mit Ex-Außenminister Sigmar Gabriel.
Basierend auf vier Reisen zwischen 2022 und 2024 durch die Länder Ostafrikas hat Kermani sein neues Buch geschrieben. Es handelt von Hunger, Klimawandel und Krieg in der Region. „Ich kann mich an Hungerkatastrophen in den 70er und 80er Jahren erinnern, da schaute jeder hin; heute gibt es die gleichen Bilder, aber keine Sondersendungen, keine Reportagen, nichts“, beschrieb Kermani den Anlass für seine Reisen und das Buch. Und das, obwohl die Vereinten Nationen für diese Region den Zusammenhang zwischen Hunger und Klimawandel erklärt hatten.
„Für mich gibt es einen großen Unterschied zwischen Wissen und Information“, sagte Kermani in Bezug auf die zunehmende Zerstörung der Umwelt. „Wissen kommt aus dem Erfahren, dem Erleben“, betonte der Schriftsteller. Ein Fischer im Süden Madagaskars habe viel weniger Informationen als jemand in der westlichen Welt, aber sein Wissen über die ihn umgebende Umwelt sei viel größer. Auch unsere heutige Bildung legt nach seiner Ansicht den Schwerpunkt zu sehr auf die Vermittlung von Informationen, aber: „Jedes gute Buch erzeugt mehr als abfragbares Wissen.“
Bildung verhindere nicht die Ausübung von grausamen Taten, so der ehemalige Politiker Gabriel. Es sei wohl eher ein Mangel an Menschlichkeit und Barmherzigkeit. „Nicht einmal Kultur war ein Schutz vor Barbarei“, bestätigte Kermani mit Blick auf die vollen Opernhäuser in der Nazizeit. Es gehe ihm eher um Herzensbildung. Er versuche, durch seine Reisen den Menschen vor Ort eine Stimme zu geben und Situationen fassbar zu machen. Es freue ihn, wenn durch seine Bücher Verantwortliche zum Nachdenken und Handeln bewegt würden.
Besonders eindrücklich beschreibt Kermani seine Erfahrungen in Kriegsgebieten. „Man erlebt den Krieg in seiner Nacktheit“, so der Autor. Die Einbildung, Krieg könnte sauber sein, sei eine vollkommene Illusion. Schon das Wort Präzisionswaffen sei irreführend, da immer Zivilisten unter den Kampfhandlungen leiden müssten. Allein im Norden Äthiopiens seien innerhalb von zwei Jahren 500.000 Zivilisten gestorben, „von denen wir nie gehört haben“. Zum Vergleich: In der Ukraine waren es im gleichen Zeitraum 15.000. „In jedem Krieg kommt es zu den fürchterlichsten Entgrenzungen“, betonte Kermani.
„Wir erleben eine Zeitenwende“, beleuchtete Gabriel die aktuellen Ereignisse in Washington und der Ukraine. Für die aktuelle amerikanische Regierung sei Europa zu einem Klotz am Bein geworden, den man loswerden wolle. Es gäbe kein Interesse mehr, in Europa präsent zu sein. Er befürchtet am Ende einen Waffenstillstand, bei dem Russland sich als Gewinner fühlen werde und zu weiteren Attacken an den Grenzen Europas einlade. „Wenn man den nächsten Krieg verhindern will, muss man sich auf ihn vorbereiten“, unterstrich Gabriel seine eigenen Worte. Schlimm sei, dass bei den gewaltigen Kosten für die Aufrüstung die Entwicklungshilfe unter den Tisch falle.
„Die Ausgaben, die wir jetzt nicht in den Klimaschutz investieren, werden in vielfältiger Weise unsere Kinder treffen“, beschrieb Kermani eine Folge der gewaltigen Kosten für das Militär. Für einen besseren Schutz Europas sei es wichtig, die europäische Idee wieder zu stärken, mit dem Fernziel der Vereinigten Staaten von Europa. Dieser Prozess sei in den letzten Jahren ins Stocken gekommen. Navid Kermani: „Wenn wir in dieser Welt bestehen und autonom bleiben wollen, dann können wir das nur als Europäer.“