Wilmer: Wir benötigen eine spirituelle Revolution
Hildesheimer Bischof wirbt in einem ZEIT-Gastbeitrag für eine Erneuerung der Kirche
Der Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer SCJ meldet sich mit einem am heutigen Donnerstag erschienenen Essay in der Wochenzeitung DIE ZEIT zu Wort. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie stellt der Bischof die Frage: Wozu brauchen wir Christinnen und Christen?
Bischof Wilmer sieht im Corona-Virus eine Herausforderung für alle Menschen, die auch die Frage aufwerfe nach der Bedeutung der Christinnen und Christen. „Wozu braucht man uns Christen überhaupt?“
Die mit der Corona-Pandemie verbundene Unsicherheit kehrt nach der Auffassung des Bischofs „die Ur-Weisheit des Christentums“ hervor: „Das perfekte Leben, auch das perfekte religiöse Leben, gibt es nicht. Gelingen und Zweifel gehören immer zusammen – das war schon bei Jesus so. Es gibt keine Biografie ohne Risse, kein Leben ohne harte Entscheidungen.“ Da es den perfekten Lauf der Dinge niemals geben werde, müsse die Umkehr als christliche Lebenshaltung auch auf die Kirche selbst angewendet werden.
„Wir müssen ausbrechen aus dem Gefängnis einer perfekten Kirche“, so Wilmer. „Manchmal ist unsere kirchliche Professionalität wie ein Gefängnis, das uns abhält von dem eigentlichen Weg, den wir uns vorgenommen haben.“
In diesem Zusammenhang erwähnt Bischof Wilmer die Kritik an ihm, die auf ein Hörfunk-Interview zu Ostern folgte: „Ich sprach von einer Fixierung auf die Eucharistie angesichts der Gottesdienst-Streaming-Flut. Aber nicht etwa, weil mir die Eucharistie und der gemeinsame Gottesdienst nicht am Herzen lägen! Sondern weil der Krisen-Perfektionismus nicht blind machen darf für die wirkliche Not.“
Darunter verortet Wilmer etwa die schwierige Situation einsamer Menschen und schildert ein Telefonat, das er mit einem älteren Mann geführt habe. Dieser habe sich nach 50 Jahren Ehe nicht von seiner sterbenden Frau verabschieden können, weil er nicht ins Krankenhaus gelassen worden sei. „Es gibt ganz unterschiedliche Opfer der Pandemie. Wir werden noch viele davon kennenlernen.“
Der Bischof appelliert daher, „die verwundeten Herzen von heute“ in den Blick zu nehmen, ebenso „die Risse in der Existenz der anderen, die Brüche in unserem eigenen Leben“. Wo immer die Kirche perfekt sein wolle und auf Leistung setze, „vergessen wir die Gnade Gottes“. Die Suche nach diesem gnädigen Gott sei die bleibende Aufgabe für Christinnen und Christen.
Ihm liege nicht daran, die institutionelle Gestalt der Kirche abzuschaffen, aber er glaube, sie allein sei nicht so übermäßig bedeutsam. „Wenn wir die Kirche wirklich verändern wollen, dann müssen wir nach dem Eigentlichen fragen. Warum machen wir das alles überhaupt? Warum Kirche, warum Glaube?“
Der Bischof konstatiert, Europa verändere sich in Glaubensfragen „so dramatisch wie vielleicht seit 1000 Jahren nicht mehr“. Notwendig sei eine spirituelle Revolution: „Wir müssen zu Suchenden werden. Erst wenn wir uns eingestehen, wie radikal sich die Welt verändert hat, werden wir eine radikale Veränderung unserer Kirche wagen.“
Die römisch-katholische Kirche habe in ihrer Geschichte mehrfach Krisen erlebt. „Die Erinnerung daran kann uns helfen, die Institution so zu verändern, dass sie wieder handlungsfähig wird“, argumentiert Wilmer. Vertrauensverlust, Legitimationsverlust und Wirklichkeitsferne seien Krisenphänomene, die die Kirche heute erschütterten und sich insbesondere im Missbrauchsskandal zeigten. „Indem wir uns die Tiefe unserer Krise eingestehen, können wir sie als Chance nutzen: wieder unseren Weg zu gehen und für andere da zu sein.“
Das Ziel einer Erneuerung sei keine perfekte Kirche, sondern eine vielstimmige Gemeinschaft, die etwas zu bewahren habe und zugleich dynamisch bleibe. Glaube sei ja geradezu der Gegenentwurf zum Perfektionismus, so der Hildesheimer Bischof. Der jüdische Songwriter Leonard Cohen drücke das so aus: „Forget your perfect offering. There is a crack in everything. That’s how the light gets in.“ (Vergiss deine wohlfeilen Gaben. Es ist ein Riss in allem. Durch diesen Riss fällt Licht.)