Vom Wald zu den Wellen
„Haus Tannenried“ in Bad Sachsa schließt zum 31. Januar
Hildesheim/Bad Sachsa (bph) Sie haben schon manches Mal neu angefangen und aufgebaut. Nun stellen sich die franziskanischen Schwestern Gerlinde Bretz (60) und Dr. Michaela Wachendorfer (51) wieder neuen Herausforderungen. Zum 1. Februar verlassen die beiden Frauen ihr „Haus Tannenried“ in Bad Sachsa und ziehen auf die Nordseeinsel Juist. Dort werden sie in der Gemeinde- und Urlauberseelsorge „Menschen auf ihrem Weg zu Gott begleiten“, so das Herzensanliegen der Schwestern. Gleichzeitig wollen sie Exerzitien und Sabbatzeiten auf der Insel in etwas anderer Form weiter führen. Am 10. Januar um 14.30 Uhr feiert der Hildesheimer Generalvikar Dr. Werner Schreer einen Abschiedsgottesdienst im Haus.
„Haus Tannenried – franziskanische Gemeinschaft“ steht am Eingangstor zum hochherrschaftlichen Haus neben dem Kurpark von Bad Sachsa. Doch wer dahinter ein strenges Ordenshaus vermutet, wird schnell enttäuscht. Mit freundlichem Lächeln und in farbenfroher Zivilkleidung öffnet Schwester Michaela die Tür, bietet Hausschuhe an und führt durch das große Haus mit seinen vielen Zimmern, von denen keines aussieht wie das andere. Schnell wird man zum geistlichen Zentrum und Mittelpunkt des Gebäudes geleitet – einer kleinen Kapelle mit hängendem Holztabernakel und einem farbenfrohen Glasfenster von Andreas Felger. „Auferstehung“, so der Titel.
Im Jahre 1910 hat sich hier am Waldrand von Bad Sachsa ein reich gewordener Fabrikant seinen Traum vom großbürgerlichen Wohnen erfüllt, mit eigenem Haus für die Dienstboten im weitläufigen Garten. Später machten verdiente Mitarbeiter der Salzgitterwerke Urlaub zwischen Bad und Wald, dann Gäste des Caritasverbandes. Später kam das Haus in den Besitz des Bistums Hildesheim. Am 4. September 1994 schließlich zogen die Schwestern Gerlinde und Michaela nach Bad Sachsa und schufen aus „Haus Tannenried“ ein „Haus der Stille“: ein Exerzitienhaus, in dem Gäste in die Kunst der Kontemplation und des Schweigens eingeführt werden. Das ehemalige Dienstbotenhaus dient nun als Eremitage, ein Haus für Menschen, die längere oder kürzere Sabbatzeiten hier verbringen.
Die Geschichte der beiden Hausbewohnerinnen ist nicht minder spannend wie die Geschichte des Hauses: Beide kommen ursprünglich aus einer franziskanischen Gemeinschaft und verließen diese Gemeinschaft im Jahre 1992. Damals konnte Gerlinde schon auf 22 Jahre Ordensleben zurück blicken, hatte im Kloster eine Ausbildung zur Fachschwester für Psychiatrie gemacht und war lange Jahre in der Noviziatsleitung. Michaela, die nach dem Medizinstudium eingetreten war, machte ihren Facharzt für Psychiatrie. Als die Ordensgemeinschaft sich immer mehr zu einem großen Krankenhauskonzern entwickelte, brachen sie auf, um nach einem Ort und Haus zu suchen, wo „Menschen im Schweigen und Gebet zu Gott finden können“, wie es Michaela formuliert. Der damalige Hildesheimer Bischof Dr. Josef Homeyer förderte bekanntlich die Neuansiedlung von Ordensgemeinschaften. Daher lud er die beiden Frauen ein, in seinem Bistum ihre Vision umzusetzen. Von 1992 bis 1994 wohnten Gerlinde und Michaela zwei Jahre im Pfarrhaus von Rollshausen im Untereichsfeld, von wo aus sie ihrer Arbeit in der katholischen Studentengemeinde in Göttingen und in der katholischen Erwachsenenbildung nachgingen. Darüber hinaus engagierten sie sich in der Pfarrgemeinde. Bis heute bestehen gute und herzliche Kontakte zu Rollshausen.
Seit 14 Jahren sind Gerlinde und Michaela nun also Herz und Seele von „Haus Tanneried“. Neben der Kursbegleitung und der geistlichen Begleitung einzelner Gäste liegen auch die ganz normalen Hausarbeiten wie Putzen, Waschen und Kochen in ihrer Hand, außerdem die Gartenarbeit, Buchführung und Büroarbeiten. 1994 haben die Schwestern einen Verein gegründet, der „Haus Tanneried“ vom Bistum Hildesheim mietet. Der Verein erhält keine Zuschüsse, sondern trägt sich aus den Kursgebühren und Spenden.
Gäste haben die Schwestern reichlich. Zwischen 1.300 und 1.700 Übernachtungen zählt das Exerzitienhaus pro Jahr. Wer ins „Haus Tanneried“ kommt, darf keine High-Tech-Tiefenanalyse erwarten. Das „Programm“ von Gerlinde und Michaela ist eben so einfach wie beeindruckend und ruht auf einer jahrhundertealten christlichen Tradition: dem „Herzensgebet“, auch „Jesusgebet“ genannt. „Im Grunde geht es darum, dass Menschen über die Stille, in der Achtsamkeit für den jeweiligen Augenblick zu Gott finden und damit zu sich selbst und zum Nächsten“, erklärt Gerlinde, die auch ausgebildete Exerzitien- und Meditationsleiterin ist. Dahinter steht der Glaube, dass Gott beständige Gegenwart ist in allem was lebt und existiert. Im Namen Jesu Christi ist nach beider Überzeugung Gott selbst gegenwärtig. So führen die Exerzitien nach Gerlindes Worten dahin, „dass im Beten des Namens sich der Mensch mit allen Gedanken und Gefühlen dahin sammelt“. Das klingt einfacher, als es ist. Nach Gerlindes Erfahrung dauert es Tage, bis die Gäste die Gedanken an den Alltag loslassen und ganz bei sich und dem Gebet ankommen, „eigentlich dauert es ein ganzes Leben“, lacht die erfahrene Kursleiterin.
In Haus Tannenried beginnt ein typischer Kurstag schweigend um 7 Uhr mit Jogaübungen und gemeinsamem Meditieren. Bis zum Wortgottesdienst um 20 Uhr ist der ganze Tag eine Einübung in die Kontemplation – das heißt beständiges Üben, bewusst im Augenblick zu leben. So meditieren die Gäste vier bis sechs Stunden täglich, gehen in die Natur und arbeiten eine Stunde mit in Haus oder Garten. Hilfen dazu gibt es in kurzen Impulsen und im täglichen Einzelgespräch. Besonders im abendlichen Gottesdienst stellen die Schwestern den Bezug zur Bibel her. Das Schweigen und die Stille tragen den ganzen Kurs und prägen die Atmosphäre des Hauses. Gerade dies zieht Gäste von nah und fern an, nicht nur Gläubige, sondern auch der Kirche Fernstehende. Neben den Kursen bieten die erfahrenen Meditationsleiterinnen auch Einzelexerzitien und Sabbatzeiten für Einzelgäste an.
In den letzten Jahren wurde die besinnliche Stille von „Haus Tannenried“ immer häufiger durch das alte Gebäude selbst gestört. „Neben den normalen Alltagsreparaturen kommt es mindestens zwei- bis drei Mal im Jahr zu größeren Schäden am Haus, die aufwändig repariert werden müssen“, erklärt Schwester Michaela und klagt: „Das können wir alleine nicht mehr bewältigen.“
Dies ist auch der Grund für den Umzug an die Nordsee. Leider habe das Bistum kein kleineres und weniger reparaturanfälliges Haus zur Verfügung stellen können, bedauert Michaela. Durch einen glücklichen Zufall ergab sich der Kontakt zum Nachbarbistum Osnabrück, zu dem die Insel Juist gehört. Im dortigen Pfarrhaus beziehen Gerlinde und Michaela eine Wohnung und arbeiten mit je einer halben Stelle in der Gemeinde- und Urlauberseelsorge. In der restlichen Zeit wollen sie dort ihren „Ort der Stille“ neu aufbauen und wieder zu Exerzitien einladen. Dafür nehmen sie die Inneneinrichtung ihrer „Tannenried“-Kapelle mit in der Hoffnung, dass sich auch auf der Insel dafür ein Raum auftut. Das „Haus der Stille“ wird also weiterleben an der See. Nur „Haus Tannenried“ wird es dort wohl nicht mehr heißen. Diesen Namen werden Gerlinde und Michaela wie den vergangenen Lebensabschnitt im Südharz zurück lassen. Klar, dass beim Abschied auch Wehmut mitschwingt. „Aber wir brechen auf mit sehr viel Dankbarkeit für das, was hier entstehen konnte und für die Hilfe vieler Menschen, die diesem Haus der Stille verbunden sind“, sagt Michaela, als sie zur Tür begleitet. Wie es mit dem Gebäude in Bad Sachsa weiter geht, ist noch unklar. Das Bistum Hildesheim als Eigentümer hat darüber noch nicht entschieden.