Mehr Mut, mehr Mitgefühl, mehr Menschlichkeit!
Predigt von Bischof Dr. Heiner Wilmer an Weihnachten - 25. Dezember 2024
Angesichts zahlreicher Opfer von Gewalt und Kriegen fordert der Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer SCJ in seiner Predigt am Hochfest der Geburt des Herrn, sich solidarisch mit den Opfern zu zeigen und sich für den Frieden einzusetzen: "Setzt ein Nein gegen die Strategie der Gewalt und ein klares Ja zum Leben aller".
Seine Predigt im Gottesdienst am 25. Dezember 2024 im Hildesheimer Dom im Wortlaut:
Liebe Schwestern, liebe Brüder!
Wann endlich Frieden? Wann endlich hören die Anschläge auf den Weihnachtsmärkten, wie jetzt in Magdeburg, auf? Wann endlich wird dem Extremismus der Boden entzogen? Warum können wir nicht miteinander reden?
Es gibt in uns Menschen eine tiefe Sehnsucht nach Frieden.
Die Engelsbotschaft der Heiligen Nacht ist Ausdruck dafür: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.“ (Lk 2,14).
Wer Gott wohlgefällt, trägt in sich den Wunsch nach Frieden. Wer den Wunsch nach Frieden in sich trägt, ist ein vom Göttlichen umfangener Mensch. Und es sind Milliarden von Menschen, die den Wunsch nach Frieden in sich tragen.
In unserer Friedenssehnsucht verbindet sich Göttliches und Menschliches miteinander. Sie wird für uns sichtbar in dem „Wort, das Fleisch geworden ist.“ (Joh 1,14). Der Epheserbrief sagt von Jesus Christus: „Er ist unser Friede.“ (Eph 2,14).
Gerade die von Leid und Krieg geplagten Menschen wollen Frieden. So haben vor 2500 Jahren Menschen in Israel sehnsüchtig nach einem Friedensbringer ausgeschaut: „Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Heil verheißt…“ (Jes 52,7).
Ich bin überzeugt, die allermeisten Menschen wollen Frieden!
Doch eine Minderheit, meistens Männer, sind Kriegstreiber. Sie haben die Macht über tausende Menschen, die sie in den Kampf zwingen. Und schon beginnt die Spirale von Gewalt und Gegengewalt.
Die Botschaft Jesu „Liebt eure Feinde!“ (Mt 5,44) wirkt da sehr provokativ!
Sie kommt aus der göttlichen Welt in unsere Welt, die nicht in der Lage ist, die himmlische Dimension des Friedens zu leben.
So heißt es im heutigen Evangelium: „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (Joh 1,9-11).
Und so ist es heute noch!
Als Menschheit schaffen wir es nicht, in unserer Welt die göttliche Dimension des Friedens umzusetzen. Warum? Es genügen nur einige wenige, um Hass und Gewalt zu säen: eine verhängnisvolle Saat, die die Friedenspflänzchen überwuchert. Einige wenige genügen! Und die Millionen Friedenswilligen sind ihnen schutzlos ausgeliefert.
Man kann doch wirklich darüber nachdenken, warum sich auch der Geschichtsunterricht an den Herrschenden orientiert: Alexander der Große, Cäsar, Karl der Große bis hin zu Napoleon, Bismarck, Wilhelm I., Wilhelm II. und sogar Mussolini - alles Kriegsherren! Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Denkmäler für die unzähligen Gefallenen und die Statuen der dafür verantwortlichen Kriegsherren in Ortsnähe beieinanderstehen.
Hier in Hildesheim allerdings wurde aus dem Reiterstandbild für Kaiser Wilhelm I., das im Zweiten Weltkrieg für neue Waffen eingeschmolzen wurde, ein Mahnmal für die Kriegsopfer.
Es gilt, sich solidarisch zu zeigen mit den Opfern.
Doch es ist Ausdruck unserer Hilflosigkeit, dass wir brutale Gewalt mit Gegengewalt abwehren, ja abwehren müssen!
Wir haben zu viele Kriege auf unserem kleinen Planeten!
Im Krieg zählen auf Seiten des Aggressors Menschenleben nicht!
Doch jedes Menschenleben zählt!
Jeder Krieg ist einer zu viel! Und jedes vernichtete und verletzte Menschenleben ist für sich eine Katastrophe.
Im Danach wird das furchtbare Leid sichtbar: die lebenslange Trauer um die toten Angehörigen; die traumatisierten Überlebenden; Menschen, die sichtbar geschädigt sind, denen Gliedmaßen fehlen, die erblindet sind.
Die diesjährige südkoreanische Nobelpreisträgerin für Literatur, Han Kang, beschreibt in ihrem Roman „Menschenwerk“ eine von brutaler Militärgewalt getroffene Frau: „Sie hat kein Vertrauen in die Menschheit. Sie vertraut keinem Gesichtsausdruck, keiner Wahrheit, keinem Wort. Sie weiß, dass sie mit hartnäckigen Zweifeln leben muss und schonungslosen Fragen.“
Es ist eine schonungslose Frage an Gott, warum er unsere Erde mit Liebe verändern will, ohne diese Liebe gewaltsam durchzusetzen. Müsste er nicht, wie es bei Jesaja heißt, „seinen heiligen Arm entblößen vor den Augen aller Nationen“? (Jes 52,10). Wir würden uns doch wünschen, dass Gott die Kriegsverbrecher dieser Welt vernichtet und so den Frieden herbeizwingt! Warum greift er nicht ein? Diese Frage bleibt schmerzhaft offen!
Wir kennen Menschen, die gewaltlosen Widerstand praktiziert haben, weil sie auf das göttliche Prinzip der Liebe vertraut haben. Doch wie schwer ist dies durchzuhalten!
Han Kang lässt in ihrem Roman „Menschenwerk“ ein Opfer sagen: „Die zahlenmäßige Überlegenheit der Soldaten war uns sehr wohl bewusst. Aber seltsamerweise spornte mich etwas an, das mindestens genauso viel zählte. Mein Gewissen. Ja, ganz recht, mein Gewissen. Die Furcht erregendste Waffe, die es überhaupt auf der Welt gibt."
Es gibt also doch Hoffnung!
Wir beruhigen unser Gewissen nicht und bleiben, wenn auch irgendwie hilflos, solidarisch mit den geschundenen Menschen.
Von vielen von ihnen können wir auch lernen, dass Verzweiflung immer wieder der Hoffnung Platz macht.
Sie hoffen gegen alle Hoffnung!
Dieses DENNOCH, dieses TROTZDEM lässt Menschen weiterleben.
Ich bin überzeugt, dass es in den Kriegsgebieten dieser Erde viele Menschen gibt, die gegen alle Hoffnung hoffen und von der einen Menschheitsfamilie träumen.
Doch es braucht viel Zeit und viel Geduld, bis es soweit ist. Es gibt auf diesem Weg des Friedens Fortschritt und leider auch Rückschritt!
In unserer Bundesrepublik droht die bisher gelebte Willkommenskultur umzuschlagen in eine geschlossene Gesellschaft. Solidarität droht verdrängt zu werden von einer Politik der Ausgrenzung. Eine differenzierende Demokratie droht sich zu verwandeln in einen platten Populismus – ein erschreckender Nährboden für diskriminierende Ideologien bis hin zum erstarkenden Antisemitismus, der niemals geduldet werden darf.
Doch jedes Menschenleben zählt!
Uns Menschen verbindet viel viel mehr, als uns trennt.
In seiner Rede bei der Herbstvollversammlung der deutschen Bischöfe in Fulda im September dieses Jahres sagte der Lateinische Patriarch von Jerusalem Pierbattista Pizzaballa: „Wir alle, die soziale, politische und religiöse Verantwortung tragen, müssen uns engagieren, um eine ‚Mentalität des Ja‘ gegenüber der ‚Strategie des Nein‘ zu schaffen. Ja zum Guten, Ja zum Frieden, Ja zum Dialog….“
„Denn“, so Paulus, „Gottes Sohn Jesus Christus … ist nicht als Ja und Nein zugleich gekommen; in ihm ist das Ja verwirklicht. Denn er ist das Ja zu allem, was Gott verheißen hat.“ (2 Kor 1,19f.).
Und Gott hat uns den Frieden verheißen!
Zu unserer Friedenssehnsucht gehört:
Ja zu jedem Menschenleben!
Das Kind in der Krippe schaut uns an und sagt uns:
Ihr könnt eure Angst überwinden und das Gewissen wachhalten.
Setzt ein Nein gegen die Strategie der Gewalt und ein klares Ja zum Leben aller.
Begreift: der Friede beginnt bei Euch.
In Eurem Herzen wird Gott Mensch.
Euer Herz ist die beste Quelle für eine gerechtere Welt. Lasst es schlagen für das große „Ja“, für mehr Mut, mehr Mitgefühl und mehr Menschlichkeit.
Amen.