Keiner verliert die Nerven
Jahrestagung der KEB widmete sich der Gehirnforschung
Hildesheim (bph) Das Gehirn ist wie ein Muskel: Es kann bis ins hohe Alter trainiert werden und fit bleiben. Mit dieser beruhigenden Aussage überraschte Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther aus Göttingen am Samstag im Joseph-Godehard-Haus die zahlreichen Zuhörer bei der Jahrestagung der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB) im Bistum Hildesheim.
Die Vorstellung, dass mit zunehmendem Alter immer mehr Gehirnzellen absterben und alle Menschen dadurch einem unaufhaltsamem geistigen Abstieg entgegen sehen, ist seit den 90er Jahren überholt, berichtete Hüther auf der Jahrestagung, die in diesem Jahr unter dem Motto stand „Bestimmt zum Guten? Die Hirnforschung und die Frage nach der Moralität des Menschen.“ Diese Erkenntnis verdankt die Wissenschaft den neuen bildgebenden Verfahren, die vor etwa 15 Jahren eingeführt wurden: „Mit speziellen Computertomographien kann man heute genau zeigen, wo im Gehirn die Durchblutung ansteigt, wenn der Mensch etwas bestimmtes tut“, erklärte Hüther, der als Leiter der Abteilung für neurobiologische Grundlagenforschung an der psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen forscht und lehrt. Und er hatte zwei verblüffende Beispiele parat. Studien haben gezeigt, dass bei Londoner Taxifahrern jener Gehirnteil, der das räumliche Orientierungsvermögen steuert, deutlich stärker ausgeprägt ist als bei anderen Personen. Und seit zehn Jahren vergrößert sich bei englischen Jugendlichen zunehmend das Gehirnareal, das die Bewegung der Daumen steuert. Kein Wunder: Seit damals gibt es Handys, in die man mit dem Daumen SMS-Botschaften eintippen kann.
Spätestens seit den 90er Jahren ist das „lineare Gehirnmodell“ also überholt, erläuterte der Professor seinen faszinierten Zuhörern. Dieses Modell ging davon aus, dass im frühen Kindesalter Nervenzellen verschaltet werden und dann mit den Jahren unaufhörlich Gehirnzellen und Verschaltungen verloren gehen. Heute gehe die Wissenschaft von einem „dynamischen Modell“ aus, referierte Neurowissenschaftler Hüther: Bestimmte Einflüsse können die Verschaltung hemmen, andere fördern sie – und das bis ins hohe Alter. Grundsätzlich kann der Mensch also bis zum Greisenalter ständig dazu lernen. Er muss es nur wollen.
Noch eine zweite Überraschung hielt der bekannte Göttinger Wissenschaftler bereit: Viele Fähigkeiten sind nicht angeboren, sondern müssen von anderen erlernt werden. Hüther erklärte das am Beispiel der Nachtigall: Der junge Vogel kann keineswegs von Geburt an singen, sondern erlernt den typischen Nachtigallen-Gesang durch Zuhören bei seinen Artgenossen. Mit dem Menschen sei es im Prinzip ähnlich, schloss Hüther seinen kurzweiligen Vortrag: Die Nervenzellen im Gehirn verschalten sich durch Zuhören und Zusehen. Eltern sollten ihren Kindern daher möglichst viele Eindrücke bieten, und zwar durch soziale Kontakte. „Alles, was die Beziehungsfähigkeit des Menschen verbessert, ist auch gut für dessen Gehirn,“ lautet die Folgerung des Gehirnforschers.