"Etwas an Finsternis sprang ab"
Ostergruß von Weihbischof Dr. Nikolaus Schwerdtfeger an die Leser der Presse
Ostern - so ist ein Gedicht von Reiner Kunze überschrieben, diesem sensiblen Dichter, den die DDR vor Jahren nicht mehr ertragen konnte.
Die glocken läuteten,
als überschlügen sie sich vor freude
über das leere grab
Darüber, daß einmal
etwas so tröstliches gelang,
und daß das staunen währt
seit zweitausend jahren
Kann man schöner ausdrücken, was Christen in aller Welt an Ostern feiern? Daß etwas so Tröstliches gelang: daß einer von den Toten auferstand! Und daß sich seitdem ein Staunen durch die Geschichte zieht: daß das Leben stärker ist als der Tod! Und daß diese Botschaft an die große Glocke gehört! Die Worte des Dichters klingen selbst wie ein Widerhall der Osterfreude.
Aber Reiner Kunze läßt noch einen Satz folgen - unerwartet.
Doch obwohl die glocken
so heftig gegen die mitternacht hämmerten -
nichts an finsternis sprang ab.
Dieser letzte Satz stellt alles in Frage. In der Tat: Was ist wirklich abgesprungen von der Finsternis unseres Daseins?
Der Schluß des Gedichtes ist irritierend - so irritierend wie die älteste Ostererzählung selbst, dem Ursprung dieser zweitausendjährigen Überlieferung. Frauen sind da in aller Frühe auf dem Weg zu einem Grab. Dankbare Erinnerung an einen Toten treibt sie dorthin und die Absicht, mit duftenden Ölen den Geruch seiner Verwesung zu verbannen. Doch diese früheste Erzählung sieht offenbar schon mehr: Die Sonne geht auf, aber die Frauen merken es nicht. Der sehr große Stein ist weggewälzt, aber sie bleiben ahnungslos. Das Grab ist leer, aber es erwartet sie ein Bote der neuen Welt: "Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Er geht euch voraus."
Doch nun folgt auch hier noch ein Satz, unerwartet, der allerletzte Satz des ältesten Evangeliums überhaupt. "Da verließen sie das Grab und flohen. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich." Mit diesen jähen Worten bricht das gesamte Evangelium ab, ist Ende, ist Schluß. Die Irritation, die das Gedicht von Reiner Kunze kennt - sie ist in der ersten Ostererzählung selbst da. Sie berichtet nur von einem einzigen Gefühl, das die Botschaft auslöst: Furcht. Und sie berichtet nur von einer einzigen Antwort: Schweigen. nichts an finsternis sprang ab.
Und doch: Es ist weitergegangen - wie sonst hätte davon berichtet werden können? Die Frauen fliehen - aber mit der Botschaft im Rücken, daß einmal etwas so Tröstliches gelang. Und der abrupte Schluß? Den hat eine Frau begriffen, die mitten im Leben stand. Vieles hatte sie noch geplant. Dann kam die schlechte Botschaft. Die ärztlichen Befunde waren bedrohlich. Es war ihr, als ob sie in ein geöffnetes Grab schaute. Sie fühlte sich unglaublich einsam. Da fand sie in der Krankenhauskapelle dieses Evangelium. Sie verstand die Angst jenes Einen als ihre eigene Angst. In Seinem Todesschrei erkannte sie ihre eigene Verlassenheit wieder. Dann aber las sie die Worte über die Auferstehung. Sie verstand sogar den Schrecken der Frauen. Sie fühlte sich von diesen Worten angenommen. Und sie erkannte: Mit der Botschaft von der Auferstehung fängt alles erst an. Ich selbst muß sie mit meinem Leben weiterschreiben. Und etwas an finsternis sprang ab.
Weihbischof Dr. Nikolaus Schwerdtfeger