Der Untergang bleibt aus
Katholisches Forum Niedersachsen fragte in Wolfenbüttel nach der Religion in unserer Zeit
Hildesheim/Wolfenbüttel (bph) Man hat sie schon oft totgesagt, die Religion. Doch die christlichen Kirchen in Deutschland haben bislang alle Stürme überlebt und werden auch die Zukunft mitgestalten, vielleicht sogar noch stärker als in der Vergangenheit – wenn man Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Lübbe, dem ehemaligen Professor für Philosophie und Politische Theorie der Universität Zürich, glauben darf. Am Mittwochabend sprach er in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel beim III. Wolfenbütteler Forum „Glaube und Vernunft“ des Katholischen Forum Niedersachsen zur Frage: „Religion als Modernisierungsgewinner?“
Die Zahlen klingen erschreckend: Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten 96,2 Prozent aller Deutschen einer der christlichen Kirchen an. Heute sind es noch 70 Prozent, in manchen Städten sogar schon unter 50 Prozent. Dieser Trend ist nicht typisch deutsch, sondern in allen hochindustrialisierten Ländern auszumachen. Und doch wollte der emeritierte Professor, Autor großer geschichtsphilosophischer Werke, nicht von seinem Optimismus lassen, den er auch aus der Geschichte und aus der Moderne zieht: Die großen, religionsfeindlichen und totalitären Staaten sind gefallen, die Sowjetunion existiert nicht mehr und auch der Nationalsozialismus ist untergegangen. Selbst davon, die Welt mit Hilfe der Wissenschaft erklären zu wollen, spricht keiner mehr.
Aber ist es in unserer modernen Welt nicht geradezu unvernünftig, an einen Gott zu glauben? Ganz im Gegenteil, behauptete Lübbe in seinem völlig frei und sehr kurzweilig gehaltenen Vortrag vor etwa 70 Gästen aus Politik, Gesellschaft und Kirchen: Die moderne Welt braucht Religion: „Je höher entwickelt die Könnerschaft unseres Zivilisation, desto größer die Gefahr des Versagens und desto stärker der Wunsch nach Sicherheit“, meinte der Professor und hatte auch gleich ein Beispiel aus seiner friesischen Heimat parat. Dort treffen sich alljährlich zu Beginn der Motorradsaison die „Biker“, um für die Verunglückten des vergangenen Jahres zu beten und um den Schutz Gottes zu bitten. Je höher entwickelt die Technik, desto größer offenbar das Ohnmachtsgefühl des Menschen und sein Bedürfnis nach Sicherheit und Trost. In die gleiche Richtung geht übrigens auch Lübbes Beobachtung, wonach unsere Zeit sehr vergangenheitsversessen ist: überall werden Kirchen und Orgeln restauriert. Wenn sich unser eigenes Leben immer schneller dreht, wächst der Wunsch nach bleibenden Werten.
Interessant auch Lübbes Vergleiche zwischen der Situation der Religionen in Europa und in den USA. Während auf unserem Kontinent die Kirche jahrhundertelang das Leben bestimmte und damit wachsenden Widerstand provozierte, haben die Amerikaner Staat und Religion immer strikt voneinander getrennt. Religiöse Toleranz wie auch religiöse Vielfalt sind die Folge. Gedanken, die Lübbe nach seinem Vortrag dann noch im Gespräch mit FAZ-Redakteur Jürgen Kaube, dem Leiter des Ressorts Geistesgeschichte, vertiefte und eine interessante These entwickelte: Wenn, wie in den USA, die Wissenschaft immer komplizierter wird und sich vom Alltagsleben der Menschen weg bewegt, wächst die Sehnsucht nach einfachen Antworten und damit der Hang zum Fundamentalismus – auch bei Christen.
Das Katholische Forum Niedersachsen wurde 2002 durch die Bischöfe von Hildesheim und Osnabrück sowie den Bischöflichen Offizial in Vechta gegründet und wird seit 2006 in alleiniger Trägerschaft des Bistums Hildesheim geführt. Dieses Forum will nach eigenen Angaben in den Bereichen der Gesellschafts- und Sozialpolitik sowie Bildungspolitik katholische Positionen diskutieren und wendet sich dabei in seinen Veranstaltungen ausschließlich an Entscheidungsträger und Fachleute.