Das herzliche Interesse an dem, was den anderen bewegt
Weihbischof Schwerdtfeger predigte während der Bischofsmesse am Ostersonntag im Hildesheimer Dom
Die Botschaft der Auferstehung gehört der ganzen Menschheit, sagte Weihbischof Dr. Nikolaus Schwerdtfeger während der Bischofsmesse am Ostersonntag im Hildesheimer Dom. Die vollständige Predigt des Diözesanadministrators des Bistums Hildesheim finden Sie hier:
Ostersonntag 1.4.2018 – Dom * Johannes 20,1-18
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Frau, warum weinst du? (20,13) Nach dem Schrei am Kreuz und der Grabesstille des Karsamstags ist dies das allererste Wort des Auferstandenen an Ostern: Warum weinst du? Er, der selbst „unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht hat, der ihn aus dem Tod retten konnte“ (Hebr 5,7), fragt behutsam und voller Anteilnahme. Er interessiert sich für die Tränen einer Frau, für das, was sie bewegt und bedrängt. Und ihre Tränen werden zum Anfang ihrer Ostererfahrung.
Ob wir selbst Ostern feiern können, nicht nur als Frühlingsfest, das wieder wärmere Tage verspricht, sondern als Fest der Auferstehung dessen, der in ein Grab gelegt wurde und über den der Tod dennoch nicht das letzte Wort hatte: Das hängt davon ab, ob wir uns in diesem ersten Wort des Auferstandenen wiederfinden können. Eine bloße Kenntnisnahme führt nicht weiter.
„Gott kannst du nicht mit einem Anderen reden hören“, notiert einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, Ludwig Wittgenstein, auf einem seiner „Zettel“, „sondern nur, wenn du der Angeredete bist. – Das ist eine grammatische Bemerkung.“ Eine solche Grammatik liegt dem Auferstehungsbericht zugrunde. Eine Grammatik ermöglicht es, Worte und Zeichen sinnvoll einzuordnen. Was Tränen sind, versteht man nicht, wenn man sie rein sachlich als salzhaltige Flüssigkeit einordnen wollte. Man versteht auch dieses Evangelium nicht, wenn man es bloß als interessanten Report liest. Die Osterbotschaft erschließt sich erst dem, der sich selber durch die Frage angesprochen weiß: Warum weinst du? Nur dann werden wir auch die anderen Worte des Auferstandenen hören und zum Osterglauben finden können, der in uns eine Hoffnung über den Tod hinaus wachruft.
Es mag sein, dass die Tränen in uns längst versiegt sind. Frauen weinen, Männer weinen nicht: Das bringt man schon kleinen Jungen bei. Wird das ihre Menschlichkeit stärken? Zehntausende sind im Meer elendig umgekommen und wir weinen noch nicht einmal mehr, hat Papst Franziskus bei seinem Besuch in Lampedusa gesagt und die Globalisierung der Gleichgültigkeit beklagt.
Warum weinst du? fragt der Auferstandene im Ostergarten und fügt eine zweite Frage hinzu: Wen suchst du? Was die Frau darauf antwortet, lässt ahnen, dass sie den Sinn ihres Lebens verloren hat. Seine Frage aber weckt ihre verschüttete Erwartung, vielleicht doch noch eine Spur des Gesuchten entdecken zu können.
Vielleicht versiegen viele Tränen heutzutage angesichts der gefühlten Ohnmacht, doch nichts ändern zu können. Dann wäre es schon viel, wenn diese Ohnmacht sich zumindest nicht in Gleichgültigkeit verlöre, sondern noch das Verlangen nach Veränderung bliebe. Denn: „Alles beginnt mit der Sehnsucht“, weiß die jüdische Dichterin Nelly Sachs.
Nicht wenige Beobachter unserer gesellschaftlichen Entwicklung meinen allerdings, dass auch solche Sehnsucht bei den meisten stillgelegt ist und sie darum nicht einmal mehr vermissen, dass sie etwas vermissen, schon gar nicht, dass sie Gott vermissen.
2
Und ich lese, wie in der neuesten Ausgabe der ZEIT eine Redakteurin gleich zu Anfang ihres Beitrags erklärt: „Ich glaube nicht an Gott. Kann es nicht, habe es nicht in mir. Als Kind wurde ich weder getauft noch konfirmiert. Meine Mutter fand, dass ich selbst entscheiden solle, und ich entschied mich dagegen.“ Dann erzählt diese Redakteurin von ihren drei Töchtern: „Nun ist geschehen, was ich nie für möglich gehalten habe. Meine Kinder glauben an Engel, sie glauben an ein Wiedersehen nach dem Tod, sie glauben, dass Gott auf sie aufpasst. Neurotisch kommen sie mir dabei nicht vor. Eher fröhlich und unbefangen.“
Die Redakteurin spricht daraufhin immer wieder einmal religiöse Themen mit Bekannten an – und erfährt viel verlegenes Ausweichen. Dann kauft sie sich das Buch einer Pädagogin: Das Alphabet der Kindheit, von A bis Z. „Ich blättere sofort zu G. Kein Gott. Dann zu R. Auch keine Religion.“ Sie schreibt der Autorin und bekommt von ihr überraschenderweise „eine wunderbare kleine Abhandlung über den kindlichen Hunger nach Transzendenz. »Die Familie«, steht darin, »sollte das Kind nicht hungern lassen. Sie sollte es nicht allein lassen mit seiner Sehnsucht.« Es gab das Kapitel also, aber der Verlag hatte sich entschieden, es nicht zu drucken.“ Die Redakteurin bemerkt: „Unsere Gesellschaft, durch und durch weltlich orientiert, nimmt das Bedürfnis zu glauben nicht ernst. Mehr noch: Wir wollen es nicht wahrhaben. Wir lassen das Kapitel einfach weg.“
Am Ende schreibt sie: „Ich selbst glaube weiterhin nicht, mir ist aber die Schönheit des christlichen Glaubens bewusst geworden.“ Und sie gesteht sich ein, dass sie eigentlich genauso viele Fragen habe wie ihre Töchter, „auch wenn ich sie Tag für Tag verdränge. Sehe ich meine Mädchen nach dem Tod wieder? Passt irgendjemand auf? Bleibt etwas von uns übrig?“ (Verena Friederike Hasel, »Jemanden zu fragen, wie er sich das Jenseits vorstellt, ist etwa so, als würde man sich erkundigen, ob er regelmäßig masturbiert«, in: Die ZEIT Nr. 14, 28.3.2018, S. 58)
Frau, warum weinst du? Wen suchst du?.. Da sah sie Jesus dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war... Sie meinte, es sei der Gärtner, und sagte zu ihm: Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast. Dann will ich ihn holen. Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte Maria sich ihm zu und sagte auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heißt Meister. (20, 14-16) Herausgerufen aus der Namenlosigkeit ihres Schattendaseins, angerufen bei ihrem unverwechselbaren Namen wird für Maria Ostern.
Gott kannst du nicht mit einem Anderen reden hören, sondern nur, wenn du der Angeredete bist. Du hörst ihn, wo du unverwechselbar bei deinem Namen gerufen bist. Du erfährst ihn, wo deine höchstpersönliche Verantwortung in Frage steht.
3
Maria hat den Sinn ihres Lebens gefunden und will ihn nicht mehr verlieren. Und doch: Der Sinn kann nur dort lebendig bleiben, wo die widerfahrene Liebe mitgeteilt wird, wo sie zu einem offenen Raum wird, der auch anderen eine neue Geschichte eröffnet: eine Geschichte der Hoffnung, miteinander, nicht isoliert voneinander. „Halte mich nicht fest“, sagt der Auferstandene zu Maria. „Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ (20,17)
Ich hörte in der vergangenen Woche eine Morgenandacht im NDR. Der Sprecher, ein Domkapitular aus Osnabrück, zitierte dabei ein Wort aus der diesjährigen Fastenbotschaft von Papst Franziskus: „Was ich besitze, gehört niemals nur mir“. Und er sagte dazu: „Mein Auto, mein Haus, meine Ersparnisse. Alles gehört niemals nur mir. Auch mein Dorf, meine Stadt, mein Land, meine Heimat, meine Kirche, das alles gehört niemals nur mir und den meinen.“ Ja, auch Ostern gehört niemals nur mir: „Christus ist nicht nur für die Christen auferstanden.“ (Ulrich Beckwermert, Morgenandacht NDR Info vom 27.3.2018)
Geh zu meinen Brüdern und Schwestern: Das ist der Auftrag an Maria. Die Botschaft der Auferstehung gehört der ganzen Menschheit: Mein Vater ist euer Vater, mein Gott ist euer Gott. Von diesem Gott des Lebens zu sprechen – dafür kann die allererste Frage der Auferstandenen der Anfang sein, der die Gleichgültigkeit aufbricht: Das herzliche Interesse an dem, was den anderen bewegt und bedrängt.
Weihbischof Dr. Nikolaus Schwerdtfeger