„Das Allermeiste wissen wir durch mutige Betroffene“
Im Hildesheimer Kreishaus nahmen gestern rund 60 Menschen an der Gedenkveranstaltung für Betroffene von sexualisierter Gewalt teil
Unter den Folgen von sexuellem Missbrauch leiden betroffene Menschen oft ihr Leben lang. Das wurde gestern Abend während einer Gedenkveranstaltung für Betroffene von sexualisierter Gewalt sehr deutlich, zu der der Betroffenenrat Nord und das Bistum Hildesheim in das Kreishaus des Landkreises Hildesheim eingeladen hatten.
Das Gebäude liegt an der Marie-Wagenknecht-Straße, die viele Jahre den Namen des verstorbenen Hildesheimer Bischofs Heinrich Maria Janssen getragen hatte, ehe es auf Initiative von Betroffenen zur Umbenennung gekommen war. Der Grund dafür: Während der Amtszeit Janssens von 1957 bis 1982 hatte es eklatante Missstände im Umgang mit sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch im Bistum Hildesheim gegeben. Janssen wird von zwei Betroffenen beschuldigt, selbst ein Missbrauchstäter gewesen zu sein.
Norbert Thewes, einer der Sprecher des Betroffenenrats Nord, beschrieb den Weg zur Umbenennung der Straße und schilderte, wie er im Alter zwischen sieben und dreizehn Jahren während der Amtszeit Janssens von einem Priester schwer sexuell missbraucht wurde.
Auch der Hildesheimer Ortsbürgermeister Dr. Tobias Eckardt äußerte sich zur Umbenennung. Im Ortsrat war die einstimmige Entscheidung dazu gefallen. Das vorherige Aktenstudium habe ihn „stark erschüttert“, betonte Eckardt und machte deutlich, wie wichtig Aufklärung in diesem Kontext sei: „Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter.“
Der Betroffene Rudolf Kastelik gab während eines Impulsvortrages Einblicke in seine persönliche Spurensuche in der Aufarbeitung. Er war während der 1950er- und 1960er-Jahre in mehr als einem Dutzend katholischen und evangelischen Kinderheimen untergebracht gewesen, in Hildesheim im Bernwardshof und im Johannishof, und hatte dort massive physische und psychische Gewalt erlitten. Dies sei „Seelenmord“ gewesen, die Zerstörung des persönlichen Lebensglücks, mit Folgen wie Panikattacken und Depressionen, die ihn bis heute begleiteten, so Kastelik.
Während einer Podiumsdiskussion wurde deutlich, an welchen Stellen das Bistum Hildesheim aus der Sicht des Betroffenenrats Nachholbedarf hat. Schwierig sei, dass die Diözese gut die Hälfte aller Empfehlungen aus den bisher erschienenen Aufarbeitungsstudien noch nicht umgesetzt habe, kritisierte Nicole Sacha aus dem Betroffenenrat Nord. So bemängelte sie, dass es, anders als im Bistum Osnabrück, noch keine unabhängige Ombudsstelle für Betroffene gebe.
Positiv sei, dass das Bistum es Betroffenen ermögliche, sich im Bistumsarchiv selbst auf Spurensuche zu begeben. „Da macht das Bistum Hildesheim wirklich gute Arbeit“, sagte Sacha. Archivdirektor Dr. Thomas Scharf-Wrede betonte gleichwohl: „Das Allermeiste wissen wir durch mutige Betroffene wie Herrn Kastelik.“
Der Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer SCJ war als Gast im Publikum anwesend und nahm nur zum Schluss der Veranstaltung kurz auf dem Podium Platz. Er sei dankbar für die Zusammenarbeit mit den Betroffenen, erklärte der Bischof. Nach seiner Auffassung werde es beim Thema Aufarbeitung „wohl nie einen Abschluss geben“, man sei aber unterwegs und nehme im Hinblick auf weitere Schritte „auch nicht den Fuß vom Gas“.
Konkret kündigte Wilmer an, dass Anfang 2024 neue unabhängige Ansprechpersonen für Verdachtsfälle von sexualisierter Gewalt benannt werden, die dezentral in der Diözese angesiedelt sein sollen. Dass diese Neubenennung bisher noch aussteht, hatten Betroffene zuvor kritisch angemerkt.