Auszug der „Wahlschweden“?
Katholisches Forum Niedersachsen diskutierte Verhältnis von Religion und Gesellschaft auf hohem Niveau
Hildesheim/Hannover (bph) Ein Bundestagspräsident, ein Bischof, ein Philosoph und ein Kriminologe – hochkarätig war am Samstag im Alten Rathaus von Hannover das Podium des Katholischen Forum Niedersachsen besetzt. Beim Thema „Religion als Sozialer Unterbau“ gab es bei unterschiedlichen Einschätzungen auch viel Übereinstimmung.
Welches Verhältnis besteht zwischen der religiösen Prägung eines Menschen und seinem Verhalten als Staatsbürger? Darf und muss es so etwas wie eine „Leitkultur“ geben? Diese und andere Fragen, die gerade in den letzten Wochen an Aktualität gewonnen haben, stellte Moderatorin Sigrid Maier-Knapp-Herbst den Gästen auf dem Podium. Interessante Zahlen hatte Prof. Dr. Christian Pfeiffer, ehemaliger niedersächsischer Justizminister und Leiter des Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, mitgebracht. Bei einer Befragung von 2.000 Jugendlichen der 9. Klassen aus Hannover bekannten sich kürzlich 40 Prozent zum evangelischen Glauben, 20 Prozent zum Katholizismus und 20 Prozent zum Islam. Während sich unter den protestantischen Jugendlichen etwa ein Fünftel kirchlich engagierte, waren es bei den Katholiken etwa ein Viertel und 80 Prozent der Muslime.
Interessant vor allem die soziodemographischen Fakten: Während bei den Christen kirchliche Bindung offenbar ein Mittelschichtphänomen ist, so Pfeiffer, hat der Islam vor allem bei der Unter- bis Mittelschicht der Muslime starken Rückhalt. Dort zeigt sich auch ein klarer Zusammenhang zwischen religiöser Bindung und „männlichkeitsdominierenden Verhaltensmustern“, wie der Kriminologe es ausdrückte: Je religiös gebundener die muslimischen Jungen, desto eher neigen sie dazu, ein aggressives Verhalten gegenüber Frauen und Andersdenkenden einzunehmen. Bei den Christen gibt es einen solchen Zusammenhang nicht.
Solche Zahlen müsse man mit Vorsicht interpretieren, mahnte der Hildesheimer Bischof Norbert Trelle. Sie seien Momentaufnahmen eines schwierigen Lebensalters. Auch der Bischof bestätigte, das sich bei seinen Schulbesuchen vor allem muslimische Jugendliche für kirchliche Themen interessieren, während er bei den Jugendlichen christlicher Bekenntnisse ein gewisses Desinteresse entdecke. Kein Grund zur Verzweiflung für den erfahrenen Seelsorger: „Bei Jugendlichen braucht man einen langen Atem und muss immer wieder Gesprächsbereitschaft zeigen, ohne sich aufzudrängen“, so der Bischof.
Mit einer interessanten These überraschte der Pariser Philosoph Prof. Dr. Rémi Brague von der Panthéon-Sorbonne: Er beobachtet nicht die Wiederkehr des Religiösen in unsere Gesellschaft, sondern den „Auszug des Irreligiösen“. Bekennende Ungläubige, die man früher mit Blick auf das entchristlichte Schweden als „Wahlschweden“ bezeichnete, seien eindeutig auf dem Rückzug, so Brague. Für den Philosophen, der auch den Guardini-Lehrstuhl an der Universität München innehat, ist das kein Wunder: Der religiöse Mensch habe etwas zu sagen, er könne Antworten bieten, der Irreligiöse nicht.
Dr. Norbert Lammert (CDU), Sozialwissenschaftler und seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestages, warb in Hannover unter anderem für seinen Begriff der Leitkultur. Nach Auffassung des Politikers genügt es nicht, auf das Grundgesetz als verbindendes und verbindliches Element für alle gesellschaftlichen Gruppen zu verweisen. Ohne Kultur keine Verfassung, glaubt Lammert. Wer das Grundgesetz wolle, müsse sich auch klar machen, auf welcher kulturellen Grundlage dieses Gesetz gewachsen sei. „Wir müssen wissen, wo wir stehen“, forderte der CDU-Politiker. Vor diesem Hintergrund will der Bundestagspräsident auch die „inflationären Aufforderungen zum Dialog“ nicht mehr hören. Sie seien oft nur eine Verweigerung der Debatte darüber, wo wir selbst stehen. „Wenn unsere Zivilisation nicht begreift, auf welcher Basis sie beruht, ist ihr nicht mehr zu helfen“, schloss der besorgte Politiker seinen Beitrag unter großem Beifall.
Das Katholische Forum Niedersachsen unter der Leitung von Direktor Jens Lüpke wurde 2002 von den Bischöfen von Hildesheim und Osnabrück sowie dem Bischöflichen Offizialat Vechta gegründet. Es fördert den politischen Diskurs und bringt dort katholische Positionen ein. Das Forum wendet sich an Führungskräfte und Fachleute aus Politik, Wirtschaft und Kultur.