Interview, Lebensweg, Zitate

Als Sie Bischof von Hildesheim wurden, waren einige wichtige Strukturentscheidungen bereits getroffen. Ihr Vorgänger Josef Homeyer hatte kurz vor Ende seiner Amtszeit die Eckpunkte 2020 auf den Weg gebracht. Waren Sie mit diesen Festlegungen einverstanden?
Ja natürlich, sie waren plausibel und unumgänglich. Ähnliche Planungsvorgaben wie die im Bistum Hildesheim damals gab und gibt es in fast allen deutschen Bistümern. Die beschlossenen Haushaltskürzungen und der Einstellungsstopp bei den Pastoral- und GemeinderefentInnen waren einschneidende Maßnahmen. Am schmerzlichsten freilich war die Schließung von über 50 Kirchen in der Konsequenz von „Eckpunkte 2020“. Viele Kirchen, die aufgegeben wurden, habe ich vorher noch besuchen können. Die Schließung von Kirchen macht wirklich keine Freude.  Sie hinterlässt tiefe Verwundungen und sichtbare Narben und am Ende der Profanierungsgottesdienste standen mir mehr als einmal, wie den anwesenden Gläubigen auch, die Tränen in den Augen. Aber: Die Eckpunkte 2020 waren in der Verantwortung für das Ganze notwendig. Darum habe ich daran festgehalten.

Wenn Sie zurückblicken: Was waren die Höhepunkte in den elf Jahren Ihrer Amtszeit als Bischof von Hildesheim?
Ganz sicher ist da zuerst zu nennen die Feier des 1200- jährigen Jubiläums unseres Bistums. Wir haben es nicht nur in der Bischofsstadt Hildesheim, sondern im ganzen Bistum gefeiert – zwischen Cuxhaven und Hannoversch Münden und zwischen Bückeburg und Helmstedt. Im Jubiläumsjahr habe ich alle 17 Dekanate besucht und bin vielen fröhlichen, gut gelaunten aber auch kritisch nachfragenden Menschen begegnet. Wir haben nicht nur einer Jahreszahl gedacht, sondern zugleich danach gefragt, wo wir heute stehen, wie die Kirche sich heute erneuern muss, wohin unser Weg gehen soll. Als Zweites ist natürlich an die Wiedereröffnung unseres sanierten und neugestalteten Domes zu erinnern. Der Dom ist die Mutterkirche des Bistums und ich bin froh, dass sie nach der Renovierung eine so hohe Wertschätzung und Akzeptanz bei den Gläubigen unseres Bistums – und weit darüber hinaus – erfährt. 

Hat Sie Ihre Zeit als Bischof von Hildesheim verändert?
Das Amt eines Diözesanbischofs verändert einen schon. Die Erwartungen der Menschen an den Bischof sind hoch, seine Fähigkeiten und Begabungen aber durchaus begrenzt. In dieser Spannung zu leben und den Dienst zu gestalten, ist ein gutes Übungsfeld der Demut – für beide Seiten. Möglicherweise bin ich in diesem Spannungsverhältnis, um im Bild zu bleiben, im Lauf der Zeit etwas dünnhäutiger geworden. Dennoch glaube ich, dass ich mir eine gewisse Gelassenheit und heitere Grundstimmung erhalten habe. Aber es bleiben auch Belastungen, die einem keiner abnehmen kann, dazu Beschuldigungen und Vorwürfe, die verletzen.

Wie werden Sie mit solchen Belastungen fertig?
Ich suche das Gespräch mit vertrauenswürdigen Menschen und nehme manches mit in mein Gebet und in den Gottesdienst. Übrigens: Gartenarbeit kann auch hilfreich sein… Vor allem darf man sich in schwierigen Situationen nicht in eine isolierende Selbstbetrachtung vergraben, auch wenn einen die Probleme bis in die Nacht beschäftigen. Vertrauen in Gott, in andere Menschen, aber auch in sich selbst – das sind für mich nicht die einzigen, aber doch wichtigen Problemlöser. Auf lange Sicht hin hilft mir auch meine Veranlagung, vergessen zu können. Das heißt, ich kann Belastendes und Problembehaftetes nach einiger Zeit auch recht gelassen in den Rückraum der Erinnerung schieben.

Immer wieder haben Sie betont, wie wichtig Ihnen Ihre Familie ist. Was bedeutet Ihnen Familie?
Die Familie ist die Urzelle menschlicher Gemeinschaft, Menschen sind keine Einzelwesen. Sie kommen nur zu einem sinnerfüllten Leben in gelebten Beziehungen. Von daher ist Familie fundamental und wir sollten sie auf alle nur mögliche Weise stärken. Sie ist ja auch für Christen eigentlich der erste Ort der Verkündigung. Ja, es stimmt: Ich selbst bin ein ausgesprochener Familienmensch und erlebe bis heute meine Familie als einen Ort der gegenseitigen Hilfe, der Lebensfreude und des guten Rates in schwierigen Lebenslagen.

In diesem Jahr hatten wir zwei Priesterweihen, im letzten vier. Für die kommenden Jahre sieht es eher düster aus, eine oder vielleicht auch keine einzige Priesterweihe steht dann an. Muss es andere Formen des Priestertums geben?
Vielleicht kommt es schneller als man denkt zu Veränderungen bei den Zulassungsvoraussetzungen für das Priesteramt. Zurzeit aber sehe ich keine neuen Anhaltspunkte, die über das hinausgehen, was der Papst bereits dazu gesagt hat. Tatsächlich hat sich die Kirche durch die Zeit hindurch die Ämter geschaffen, die sie brauchte, um bei den Menschen zu sein und an der Seite der Armen zu stehen, um das Wort Gottes zu verkünden und die Sakramente zu spenden.

Wie muss sich die Kirche überhaupt verändern, um zukunftsfähig zu werden?
Zukunft hat die Kirche, wenn sie den Menschen glaubwürdig Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zugleich bezeugt. Die unterschiedlichen Lebenssituationen der Menschen von heute machen dies besonders dringlich und notwendig. Mit den drei Begriffen „Begleiten“ – „Unterscheiden“ – „Eingliedern“ bringt Papst Franziskus einen Grundakkord heutiger Seelsorge zum Klingen, der besonders die Menschen erreichen soll, die das Bruchstückhafte ihres Lebens bitter erfahren mussten und es bis in die Gegenwart hinein zu gestalten haben. Solche Menschen zu begleiten, ihre Lebenssituationen zu unterscheiden und sie in die Kirche einzugliedern: Das ist eine wesentliche Zukunftsaufgabe der Kirche. Es gibt eben nicht nur Schwarz oder Weiß, es gibt jene Graustufen, die eine differenzierte Seelsorge notwendig machen.

Was ist mit eher praktischen Zukunftsfragen wie der Leitung von Gemeinden?
Wir werden Laien klarer und deutlicher in die Mitverantwortung nehmen, auch in der Leitung von Gemeinden. Ich habe erst vor wenigen Wochen eine Rahmenordnung unterzeichnet, die dies in unseren Gemeinden und pastoralen Räumen ermöglicht. Es wird Beauftragte geben, die mit Rückbindung an den leitenden Pfarrer selbstständige Entscheidungen in einzelnen Kirchorten treffen können. Damit wird nicht das Weihepriestertum in seiner vorrangigen Hinordnung auf den Leitungsdienst zur Disposition gestellt, es bleibt für unser Kirchenverständnis konstitutiv. Aber wir brauchen eine Öffnung auf alle Getauften und Gefirmten hin, ihre spezifische Leitungsverantwortung in Teilbereichen der Pfarrgemeinde wirksam wahrzunehmen.

Wo stehen wir im 500. Jahr der Reformation in punkto Ökumene?
Wir haben in der Ökumene Fortschritte gemacht, wie wir sie vor 50 Jahren nicht für möglich gehalten hätten. Aber die Entwicklung mit Blick nach vorn muss weitergehen, Ziel muss sein, die sichtbare Einheit nach innen und außen zu gewinnen. Dazu ist noch viel theologische Feinarbeit nötig und viel Geduld für die Zwischenschritte. Aber dass wir uns schon heute unserer gegenseitigen Wertschätzung versichern können, ist doch wunderbar!

Worüber machen Sie sich Sorgen?
Wir hören fast täglich von neuen Terroranschlägen, vom nicht enden wollenden Krieg im Nahen und Mittleren Osten, von weltweiten Flüchtlingsströmen und den Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. Das ist die Apokalypse unserer Tage. Das treibt mich um und das darf uns nicht zur Ruhe kommen lassen. Wir müssen die Politiker unterstützen, die sich dieser Probleme annehmen. Ich habe die Entscheidung von Kanzlerin Merkel, bei uns Flüchtlinge in großer Zahl aufzunehmen, nicht nur für mutig gehalten, sondern auch für durch und durch christlich begründet. In der Bergpredigt werden wir aufgefordert, uns derer anzunehmen, die hungrig, durstig oder obdachlos sind. Ich finde es schändlich, dass es Europa nicht gelingt, sich gemeinsam diesen Herausforderungen zu stellen.

Was bewegt Sie noch?
Ein ganz anderes Thema: Es heißt Überinformiertheit und Handyabhängigkeit und, damit verbunden, bewusstes Verbreiten von Falschmeldungen. Ich besitze selbst ein Smartphone und bin alles andere als ein Kulturpessimist. Aber wenn ich den Umgang gerade von manchen Kindern und Jugendlichen mit dem Handy erlebe, dann habe ich die Sorge, dass direkte, persönliche und wahrhaftige Kontakte auf der Strecke bleiben. Ein Handy kann auch zum Kommunikationsverhinderer werden. Wir müssen sicher Wege finden für einen verantwortungsvollen Umgang damit, ohne die Menschen zu bevormunden.

Kennen Sie als Bischof auch Glaubenszweifel?
Es gibt unter Glaubenden wohl niemanden, der nicht irgendwann auch zweifelt. Auch Papst Franziskus hat schon über Momente seines eigenen Zweifelns berichtet. Sehen Sie, seit 50 Jahren bemühe ich mich, die Kernaussagen des Glaubens mir selbst und anderen plausibel und zugänglich zu machen, und trotzdem tritt zuweilen dieser „Geist, der stets verneint“ vor mich hin mit der Frage: „Glaubst du das wirklich alles? Kann das denn wirklich alles so sein? Kommt es am Ende nicht doch ganz anders?“ Aber dann spüre ich in bestimmten Momenten auch wieder deutlich die gnadenhafte Stärkung im Glauben. Ich fühle mich getragen im Mit-Glauben mit den anderen in der Kraft des Heiligen Geistes. Glaube ist immer auch ein „Wir-Glaube.“ Dieser Glaube nimmt mich mit und treibt mich an.

Welche Pläne gibt es für die Zeit nach Ihrem 75. Geburtstag? Haben Sie noch ein bestimmtes Ziel?
Ich habe mir vorgenommen, noch viele jener Kirchen im Bistum zu besuchen, in denen ich bisher leider noch nicht war, das sind von über 400 rund 85. Natürlich werde ich auch weiterhin Gottesdienste feiern und, wenn notwendig, auch Firmungen spenden. Außerdem möchte ich noch einige Reisen unternehmen. Und ich freue mich aufs Wandern und Fahrradfahren im Harz, in der Heide, im Weserbergland oder an der Unterelbe – und anderswo in unserem schönen Bistum. Außerdem harren noch viele Bücher der Lektüre!

Was wünschen Sie sich von Ihrem Nachfolger?
Dass er ein Mann der Kirche ist, Gott und den Menschen zugewandt, von gewinnender Menschenfreundlichkeit, theologischer Tiefe, offen für die Fragen und Probleme der Zeit und besonders der Jugend verbunden, ihren Fragen, ihrem Suchen, ihrer Fröhlichkeit. Sie merken schon, damit wären wir wieder bei den Überforderungen – siehe den Anfang des Interviews … Also in kleinerer Münze: Er möge spüren lassen, dass nur der Gott nahe sein kann, der die Menschen liebt.

Lebensweg

  • Am 5. September 1942 wurde Norbert Trelle kurz nach seiner Zwillingsschwester Gisela in Kassel geboren. Er ist das jüngste von vier Kindern.
  • Umzug der Familie nach Bonn 1958. Nach dem Abitur 1962 studierte Norbert Trelle Theologie in Bonn und Innsbruck.
  • Weihe zum Priester am 2. Februar 1968 in Köln durch Joseph Kardinal Frings.
  • Kaplan in Heiligenhaus und Ratingen von 1968 bis 1978, anschließend bis 1992 Pfarrer und Stadtdechant in Wuppertal.
  • Weihe zum Bischof am 1. Mai 1992 in Köln durch Joachim Kardinal Meisner. Als Weihbischof zuständig für den südlichen Pastoralbezirk des Erzbistums Köln.
  • Ernennung zum Bischof von Hildesheim am 29. November 2005 durch Papst Benedikt XVI. Am 11. Februar 2006 wurde Trelle als Nachfolger von Bischof em. Dr. Josef Homeyer in sein Amt als Bischof von Hildesheim eingeführt. Wahlspruch: FUNDAMENTUM EST CHRISTUS IESUS – Grundstein ist Jesus Christus (1 Kor 3,11)
  • In der Deutschen Bischofskonferenz ist Trelle Mitglied in der Vollversammlung und im Ständigen Rat. Außerdem gehört er der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen sowie der Migrationskommission an, deren Vorsitz er von 2010 bis 2016 innehatte. Von 1996 bis 2010 hatte Trelle die Beauftragung für die Auslandsseelsorge inne und war Beauftragter für die Seelsorge an Sinti und Roma. Seit 2011 ist er stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.

Zitate

„Kinder zur Gewalt statt zur Friedfertigkeit zu erziehen, ist eine große Sünde.“

Trelle im Mai 2006 zum Schicksal von Kindern, die als Kindersoldaten zum Kämpfen und Töten gezwungen werden

„Wir feiern unsere Einheit und halten einen Platz frei für Fremde. Das ist die moralische Substanz der Einheit.“

Bischof Norbert Trelle während des Festgottesdienstes am 3. Oktober 2014, mit dem die offiziellen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Hannover eröffnet worden sind

„Wir haben nicht erkannt, dass unser Platz bei den Opfern von Gewalt und Missbrauch ist.“

Bischof Trelle während eines großen Schuldbekenntnisses am Aschermittwoch 2015 zu Sünden der Bistumsgeschichte

„Mit Trauer und Zorn nehme ich wahr, dass das Mittelmeer zum größten Massengrab Europas geworden ist.“

Trelle zum schweren Flüchtlingsdrama im Mittelmeer im April 2015

„Der Egoismus zerstört die Welt, er ist das Einlasstor des Todes.“

Zitat aus der Osterpredigt Trelles aus dem Jahr 2013